Das Dachgeschoß
Blau ist eine warme Farbe: Das Juridicum Dachgeschoß
Die Stahlträger sind „Ultramarinblau“, aber wie heißt nur die Farbe der Sessel korrekt? © Joseph Krpelan
Blau ist eine warme Farbe: Das Juridicum Dachgeschoß
Das Juridicum Dachgeschoß ist ein faszinierender Ort. Der Abschluss des Hauses verleiht dem gesamten Gebäude eine neue ästhetische Dimension. Es ist kein Zufall, dass sich genau hier die Fantasien aller seiner Nutzer*innen treffen und gegenseitig befeuern. Manchen Studierenden ist es ein Arkan-Bereich, von dem sie bisher nur Gerüchte hörten, aber ihn noch nie betreten durften. Nur die informellen Sitzplätze, die bei den Aufzügen liegen, sind für manche Studierende ein schöner und manchmal heimlicher Rückzugsort.
Doch die Dachgeschoß-Türen selbst sind meist verschlossen. Denn es hat seine Geheimnisse. Dass der Mythos, es gäbe oben am Juridicum einen Pool, auch systematisch von Christian Koller und anderen Professor*innen sowie dem Portier genährt wird, passt perfekt ins Bild.
Schöne Dachgeschoß-Sitzgelegenheiten vor den Aufzügen: Nachmittagssonne an Stiege 1 © Miloš Vec
Denn das Dachgeschoß ist ein Raum, der wie eine Gegenwelt zu den anderen Etagen anmutet. Mögen unten die Arbeiter*innen der Rechtswissenschaft fleißig sein, lernen, lesen und schreiben, so spürt man von diesen Mühen im Dachgeschoß nicht einen Hauch. Es ist die Vorzeige-Etage der Rechtsfakultät. Hier finden internationale Konferenzen, Podiumsdiskussionen, Buchpräsentationen und hochrangige Vorträge statt. Am Jahresende werden hier stets die 10 besten AbsolventInnen der Rechtswissenschaft ausgezeichnet. Es ist bezeichnend, dass es um die Raumvergabe dieser Etage Rangeleien gibt. Die Professor*innen konkurrieren untereinander um die Belegung, argwöhnen, dass nicht nur das Prioritätsprinzip der entscheidende Faktor bei der Vergabe sei, und die Studierenden fragen kritisch, warum es dort keine Lehrveranstaltungen gibt und der Zugang für sie so reglementiert ist. Das Dachgeschoß ist cool, und wie alle seltenen und schwer zu erlangenden Dinge erscheint es genau dadurch nochmals cooler und begehrenswerter.
Auch bei den Veranstaltungen bemerkt man, wie das Dachgeschoß geradezu eine Gegenwelt zur juristischen Alltagsnormalität ist. Man sieht keine Menschen, die sich angestrengt über Bücher und Manuskripte beugen, sondern es wird Jurisprudenz als elegante Utopie aufgeführt: Reine Argumente überkreuzen sich, StarrednerInnen inszenieren die Leichtigkeit des Gedankens – im rechtspolitischen Streit zählen Schlagfertigkeit, Witz und womöglich auch Überspitzung, ohne dass am Rand ein roter Korrekturstift eingreift. Das Juridicum-Dachgeschoß inszeniert gedankliche Freiheit und verkörpert die Sehnsucht, nach der Rechtswissenschaft mühelos und leicht sein könnte.
Das obere Ende der Wiener Rechtswissenschaft © José-Domingo Rodríguez
Architektonisch setzt das Dachgeschoß eigene Akzente. Der Raum erstreckt sich über die gesamte Fläche zwischen Stiege I und II, es gibt keine weiteren Abteilungen und Unterteilungen, Gänge und Büros. Stattdessen: Offenheit, Licht und weite Blicke. Kaum ein umliegender Ort im Ersten Bezirk erreicht diese Höhe, keine Etage im Juridicum diese Offenheit in der Fläche.
Wo das Juridicum bisher vom Untergeschoß bis zum sechsten Stock mit sienafarbenem Kautschuk-Noppen seine eigene Marke bis ins Merchandising kultiviert, da wechselt das Dachgeschoß plötzlich in einen anderen Ton und wird Blau. „Dieser Boden“, kommentiert die Architekturkritikerin und Architektin Judith Eiblmayr würdigend bei einer gemeinsamen Begehung, „gibt einen warmen Farbton.“
Blau ist eine warme Farbe: Wechsel des Noppenbodens an den Dachgeschoß-Glastüren © Miloš Vec
Blau – genauer gesagt: ultramarinblau – sind auch die extrem auffälligen Träger, die die Hausstruktur so sichtbar wie nirgends sonst im Gebäude machen. Mag die eigentliche Technik des Juridicums verborgen im Keller liegen, so mutet das Dachgeschoß auf seine Weise wie ein Maschinenraum an. Die Ideen des Architekten Ernst Hiesmayr und seiner Ingenieure lassen sich hier im wahrsten Sinne des Wortes auf ihre Robustheit abklopfen: Der lackierte Stahl ist bis zu 7 cm dick und die Klangprobe gibt entsprechend volle, schwere Resonanz.
Durch die säulenartigen Rohre entlang der Verglasungen fließt das Warmwasser durch alle Stockwerke und beheizt alles. „Ein ziemlich seltenes System“, sagt Eiblmayr, „und es scheint immer noch zu funktionieren.“ Eiblmayr ist fasziniert von der – wie sie sagt – „Schiffsästhetik“: Man steht wie auf einer Kommandobrücke eines Ozeandampfers und fühlt sich so frei, als ob man gleich an die Reling gehen und aufs Meer schauen könnte. „Das ist jetzt aber nur eine Metapher“, fügt sie lächelnd hinzu.
Wenn man oft genug auf Veranstaltungen im Dachgeschoß war, begreift man die Dreiteilung des Raumes. Es gibt einen inneren Kern, eine weitere Sphäre und einen Außenraum jenseits beider Sphären. Der innere Kern ist der möblierte Konferenzraum mit dem Stehpult und dem langen Tisch für die RednerInnen und ModeratorInnen. Dass vorne Mikros stehen, ist eine praktische, aber auch nötige Infrastruktur für einen Veranstaltungsraum. Denn die Weite des Raums erzeugt eine Akustik, die auf die technische Verstärkung des Worts angewiesen ist. Die Gäste fühlen sich beim Hinsetzen dazu animiert, die gesamte Breite der Tische in Anspruch zu nehmen, nicht nur, weil sie manchmal scheu sind und sich nicht direkt vors Pult setzen wollen, sondern weil es zwei Leinwände gibt, auf die Präsentationen parallel geworfen werden.
Rechtswissenschaftlicher Konferenzraum mit Eigenschaften © Miloš Vec
So kann man Abstand zum Zentrum halten, weniger sichtbar bleiben und sich gegebenenfalls auch früher aus der Veranstaltung entfernen. Aber akustisch verstehen würde man die Erzählung an den jeweiligen Rändern des Raums ohne Mikrofon nicht, zu sehr verflüchtigt sich der Schall in der Breite des Geschosses.
Hinter den Tischen und Stühlen als auch auf der anderen Seite des Pultes liegt eine räumlich abgegrenzte und innenarchitektonisch nochmals ganz anders gestaltete zweite Zone: Zwei parallele, sehr weite Gänge erstrecken sich entlang der Fensterfronten. Der Raum öffnet sich zudem plötzlich in die Höhe, während der eigentliche Konferenzraum innen niedrig ist. Seine Farbe wechselt, und zwar nicht nur wegen der ultramarinblauen Stahlträger, sondern noch auffälliger wegen der niedrigen giftgrünen Sessel. Sie liegen auf beiden Seiten des Dachgeschosses in jeweils einer langen Reihe um ebenso runde wie niedrige Marmortische.
Dachgeschoß-Glasfassade mit gespiegelter Votivkirche © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl
Wenn man auf Workshops und Konferenzen Fotos schießt, sehen die Bilder in diesem Setting fast automatisch großartig aus: Die Tiefe des Raums, das seitlich von draußen einfallende Tageslicht und die markanten Farben, die tatsächlich sonst nirgends im Juridicum vorkommen, bilden zusammen ein perfektes Setting sowohl für Schnappschüsse von Pausendiskussionen als auch Portraits der Vortragenden oder gar gestellte Gruppenbilder.
Der dritte Bereich ist die Außensphäre des Juridicums jenseits der dicken Dachgeschoß-Glasscheiben. Dieses Außen ist ständig präsent, wird gerne angeschaut und bleibt doch unerreichbar. Die Aussicht vom Dachgeschoß ist ganz anders als aus den niedrigeren Etagen: Man blickt über die Dächer Wiens und weit in die Ferne. Zu sehen sind in einem 360-Grad-Panorama diverse Kirchtürme und Hochhäuser, die Uno-City, das Wiener Riesenrad, auf der anderen Seite der Wienerwald.
Sonne und Wolken gleiten über diese Stadtlandschaft, beim Zuhören von Vorträgen schweifen die Augen unwillkürlich über dieses Panorama, und jede Krähe, die plötzlich durch das Blickfeld hinter dem Rednerpult oder dem Vortragstisch zischt, zieht Blicke auf sich. Nach einer Zeit in dieser Dachlandschaft bemerkt man, wie regelmäßig und flach die Flugzeuge am Horizont ihre Bahnen im Landeanflug auf Schwechat ziehen, und jedes Mal denkt man: jetzt schon wieder eines!
Vorsprung durch Technik: Außenstrukturen am Dachgeschoß © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl
Es ist sehr hell dort oben, doch das von hinten durch die Scheiben fallende Licht erzeugt manchmal einen starken Kontrast zum Zuhörerraum, sodass man nicht nur abends, sondern auch tagsüber das Licht einschalten möchte. Zugleich bleibt der Außenraum der Inneren Stadt unerreichbar. Es gibt Fenster und Türen, die man öffnen könnte, aber niemand darf es, der nicht dazu befugt ist, und die meisten Kolleginnen und Kollegen im Haus haben habe tatsächlich noch nie jemand anders als Techniker hinaustreten sehen. Ist der Zugang zum Dachgeschoß schon streng reglementiert, so sind die schmalen Terrassenwege tabu. Judith Eiblmayr sagt, es ist meistens so, dass der interessanteste Teil eines Gebäudes unter Verschluss ist.
Die Gestaltung dieses Raums hält einige Besonderheiten vor, denen man erst bei mehrfachen Besuchen angemessene Beachtung schenkt – und manchen Elementen womöglich niemals. Auffällig und praktisch ist die Platzierung von Bar und Garderobe nahe den großen Glastüren. Konferenzen bauen hier, bei Stiege II, ihre Büfetts mit Essen auf, schenken tagsüber Kaffee und abends weißen Spritzer aus. Am anderen Ende, nahe der Stiege I ist nicht nur die Garderobe, sondern dort prangt über Kopfhöhe auch der stolze Hinweis der Erbauer des Gebäudes: „Europäischer Stahlbaupreis 1980“. Er ist angebracht auf dem gestockten Beton, durch den innen die Aufzüge laufen. Weil im Haus niemand mehr als eine diffuse Vorstellung vom Stahlbau der achtziger Jahre hat, nehmen die BesucherInnen die Beschriftung mutmaßlich allenfalls amüsiert zur Kenntnis. Was an diesem Haus schon Besonderes sein könnte, müsste man sich erst einmal durch Stahlbau-ExpertInnen erklären lassen.
Ausgezeichnet war das Juridicum schon vor seiner späteren Fertigstellung im Jahr 1984 © Miloš Vec
Man kann mit guten Gründen annehmen, dass es der Dachgeschoß-Kunst am Bau ähnlich ergeht: obwohl sie so offensichtlich ist, wird sie zunächst einmal übersehen. In der Edgar Allen Poe-Erzählung „Der entwendete Brief“ von 1844 entwickelt Poe, der amerikanische Vorreiter der Kriminalliteratur, eine Pointe, die man auch auf das Dachgeschoß anwenden könnte. Die Polizei durchsucht immer wieder und immer verzweifelter einen Raum nach einem gestohlenen Brief. Sie findet ihn nicht, weil die Person, die ihn versteckt hat, mit dieser Durchsuchung und ihren Methoden gerechnet hat, die akribisch genau nach etwas Verstecktem suchen – und deswegen übersehen, dass der Brief vor aller Augen offen liegt: Was hinreichend groß ist und prominent genug gezeigt wird, muss keineswegs entsprechend viel Aufmerksamkeit erfahren.
Im Dachgeschoß sind es zwei riesige Gemälde eines berühmten österreichischen Malers, die erst einmal prominent ignoriert werden: Der großartige Max Weiler (1910-2001) malte sie rund zehn Jahre vor Eröffnung des Gebäudes, 1973 und 1974. Jede Konferenz, Podiumsdiskussion, Preisverleihung findet in ihrem Rahmen statt, und diese Umrahmung ist tatsächlich wörtlich gemeint, nicht metaphorisch.
Max Weiler, „Natur mit Caput Mortuum“ (1974) © Robert Najar
Denn die Gemälde markieren tatsächlich genau zwei wandgroße Abschlüsse des Innenraums des Dachgeschosses: Sie bedecken in voller Höhe und Breite die inneren Seiten des Zuhörerraums und messen stattliche 256 × 608 Zentimeter. Max Weiler war solche Platzierung immer recht. 1979 formulierte er: „Ich will auch unter die Leute, zu den Leuten kommen. Darum mache ich große Bilder-Wände. Damit die Leute vorbeigehen können, in den vier Wänden wandeln, vor den Wänden stehen. Und die Wände können sie ein bißchen verwandeln.“
Der optische Zugang zu den Gemälden ist durch zwei Hürden beschränkt: Erstens liegen beide Kunstwerke hinter Glas, und zweitens ist ihre Platzierung 90° gegen die Blickrichtung des Publikums gedreht, die nämlich nach vorne in Richtung von Rednerpult geht, sodass man die meiste Zeit die Bilder nur in den Augenwinkeln hat. Eine direkte Draufsicht bräuchte zudem einen Abstand, den die Stühle und Tische erschweren. Die Bilder sind im wahrsten Sinne des Wortes Kunst im öffentlichen Raum und mit diesem so sehr verschmolzen, dass sie gerade nicht wie Ausstellungsstücke daherkommen, vor denen man sich hinstellt und sie mit Kennerblick begutachtet. „Ich bin nur ein Wandmaler, alles stelle ich mir als Wände vor, vor denen die Leute stehen, gehen, handeln, ruhen. Dazu habe ich mir die Mittel gemacht, gefunden, entwickelt,“ sagte Weiler 1977.
Die interessantesten Teile eines Gebäudes sind meistens unzugänglich und auch diese Tür ist immer verschlossen © Miloš Vec
Die Farben der zwei Weiler-Gemälde sind blass. Sie geben keine bestimmte Blickrichtung vor, und dieses Fehlen der Perspektive macht sie nicht nur interessant, sondern zu idealen Begleitern und visuellen Widerparts von Veranstaltungen im Dachgeschoß: Raum, Ausschnitt und Richtung bleiben im Ungefähren. Beide Gemälde fallen in eine Periode ihres Schöpfers, in der dieser eine bestimmte Natur-Metaphysik betrieb. Denn Weiler hat ein langes Leben gehabt, das die Epochen des 20. Jahrhunderts abdeckt: 1910-2001. Sieben Jahrzehnte lang, ab 1927, malte er. Seine verschiedenen künstlerischen Schaffensphasen fallen nicht nur verschiedene politische Epochen Österreichs, sondern in Stilrichtungen der nationalen und internationalen Kunst. Wenn man diese Juridicum-Bilder sieht, ahnt man nicht, dass Weiler auch einmal ein „Skandalmaler“ Österreichs war, der sich einst vor Gericht für „Der Lanzenstich“ verantworten musste, ein 1947 enthülltes Fresko in der Theresienkirche auf der Innsbrucker Hungerburg.
In der konservativen Nachkriegszeit war seine Darstellung eines Bauern, der Jesus am Kreuz mit der Lanze in den Bauch sticht, für manche Tiroler eine Provokation. Es folgte ein Prozess mit Anklage wegen „Herabwürdigung des Bauernstandes“, von der er schließlich freigesprochen wurde. In den sechziger Jahren wandte sich Weiler einer Bildsprache zu, die die Juridicum-Bilder stilistisch und farblich erahnen lässt. Er malt großformatige Motive und nennt sie „wie eine Landschaft“. Der Kunsthistoriker und Philosoph Gottfried Boehm erklärt die Doppelbödigkeit: Der Titel rege unsere Fantasie an und setze voraus, „dass die Bilder keine wirklichen Landschaften sind, wenn sie ‚wie‘ Landschaften aussehen.“ Eigentlich müssten JuristInnen, die auf die Interpretation von Worten geschult werden, Spaß an dieser Diskrepanz haben.
Max Weiler malt auf handgeschöpftem Papier (1987), fotografiert von Franz Hubmann © Robert Najar
1973 und 1974 entstehen die beiden im Juridicum hängenden Gemälde. Sie leiten nach allgemeiner Ansicht Max Weilers Spätwerk ein, und auch mit ihm hat er sich den Titel eines „alten Meisters der Moderne“ verdient. Weiler malte sie wahrscheinlich im Atelier in der Akademie der bildenden Künste, wo er viele Jahre Professor war. Ihre Titel lauten: „Natur mit Caput Mortuum“ (1974) sowie „Ganz rechts lebendige Natur“ (1973). Max Weiler, Sohn eines k.k.-Richters in Hall, hat zu Natur und speziell zu den Bergen eine innige, nachdenkliche und erfüllende Beziehung gehabt. In dem Jahr, als er die erste der beiden Juridicum-Landschaften schuf, 1973, notierte er:
„Wenn ich in der Natur stehe, so überkommt mich eine ungemeine Erhebung. Ich schaue, sehe und verschiedenste Tages- und Jahreszeiten, verschiedenste Gegenden ergreifen mich. Ein Gefühl der Vereinigung mit der Natur erfaßt mich. Sie wird für mich wie durchsichtig. Ich bin einbezogen in ihr webendes Sein. Eine große Ruhe strömt aus dem weiten, erfüllten Raum, die vollkommenste Zufriedenheit – Freude des Aufgehens in einem ungeheuren, erhabenen Geschaffenen. Ungeheurer Respekt vor einer solchen Schöpferkraft. Grenzenlose Verehrung. Dies scheint ein Weltgefühl zu sein. Es wird bei Künstlern verschiedenster Zeiten sichtbar, fast immer gleich großartig bei den Chinesen des zwölften bis dreizehnten Jahrhunderts.“
Max Weiler im Jahr 1988, fotografiert von Franz Hubmann © Robert Najar
Tatsächlich hat Weiler immer wieder weltoffene Bezüge insbesondere zu Kunst des Fernen Ostens explizit hergestellt, die man in seinen Gemälden wiederfindet. Die ebenso monumentalen wie reduzierten Landschaften im Juridicum-Dachgeschoß lassen die stilistische Nähe zu China erkennen. Gottfried Boehm brachte das pointiert auf den Punkt, als er schrieb: „Die Neuen Landschaften nun handeln von der Macht der Leere. Sie zeigen, dass das Nichts der Grundierung selbst schon eine mächtige malerische Größe repräsentieren kann. Genauer betrachtet ist der Grund durch farbige Flecken und Spuren markiert, ihn überziehen schwachfarbige Schleier oder wolkenartige Gebilde. Wir blicken hindurch, sehen aber jetzt auch das Medium in mannigfaltigen Brechungen von Helligkeit.“
Weilers große weiße Flächen auf beiden Gemälden im Dachgeschoß unterstreichen die elegante Großzügigkeit der gesamten Etage. Was man nicht sieht und was man nicht weiß: Diese zwei Gemälde gehören eigentlich zu einem Zyklus: „Vier Wände“. Der Titel verweist darauf, dass es sich um wandgroße Leinwände handelte, die Weiler bemalte. 2004 waren die „Vier Wände“ im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien (Mumok) ein einziges Mal gemeinsam ausgestellt, danach nicht mehr. Nicht nur infolge der Eigentumsverhältnisse – zwei Gemälde gehören dem Juridicum, zwei andere nicht – ist unrealistisch, dass sie jemals dauerhaft zusammen einen Raum gestalten werden.
Im Ausstellungskatalog zu „Vier Wände“ von 2008 finden sich Bildbeschreibungen, dort erklärt der Wiener Architekturhistoriker und Professor an der Angewandten Matthias Boeckl über „Ganz rechts lebendige Natur“ (1973):
Max Weiler, „Ganz rechts lebendige Natur“ (1973) © Robert Najar
„Die linken drei Viertel des großen Querformats zeigen weißen Grund, auf dem vereinzelt kleine grüne, gelbe und graue Farbflecken schweben, wenige graue Zusammenballungen wirken wie Nebelfetzen, die durchs Bild treiben. Am rechten Bildrand türmt sich eine pflanzenartige Masse grüner Gewächse und kompakter Klumpen, aus denen von oben wie eine gelbe Strahlung mit runden grünen Elementen Material ausbricht. Insgesamt könnte es sich – verführt auch vom Titel des Bildes – um den Blick auf einen Berghang handeln, der rechts nur angeschnitten wiedergegeben ist, links würde der Blick in dieser gegenständlichen Lektüre auf die atmosphärischen Effekte der Bergwelt schwenken.“ Aber Boeckl lässt die Interpretation offen und relativiert diese Theorie sogleich.
Zu „Natur mit Caput Mortuum“ schreibt Boeckl: „1974 entstanden und gleich groß wie das Vorgängerbild, dominiert in der rechten Bildmitte eine große braune Struktur, die an einen Wurzelstock oder eine Felsformation erinnert. Die rotbraune Struktur ist – wie auch viele andere Bilder Weilers – in jedem Eisenoxyd gemalt, das als Englisch-Rot oder Caput Mortuum bekannt ist. Links davon schwebt eine biomorphe, gelbgrün strukturierte Form. Vom Wurzelstock in der Bildmitte zieht sich über die gelbgrüne Form hinweg bis an den linken Bildrand ein Bogen, der aus grünlichen Farbinseln zu bestehen scheint. Am rechten Bildrand erscheinen über einem grünen, buschartigen Objekt weitere braune und gelbe Farbinseln, die meist rund sind und unterschiedliche Größe zeigen.“
Muranoglas in Regenbogenreihung: Blicke auf Leo Wollners „Glaswolke“ © Miloš Vec
Im Gegensatz zur strahlenden Prominenz von Weiler und den zahlreichen Texten über seine Gemälde steht das andere Werk, das im Juridicum-Dachgeschoß hängt. Es sind die „Glaswolken“ von Leo Wollner. Von der Höhe herab fallen die Scheiben in blau, grün und weiß. Auch sie erzeugen den intensiven Raumeindruck der Dachgeschoß-Etage und unterstreichen zugleich die Retro-Ästhetik des gesamten Hauses: Man fühlt sich gleich in die siebziger Jahre versetzt, wenn man die leuchtend-poppigen Farben und Formen dort hängen sieht. Judith Eiblmayr meint, es habe etwas von Wasserästhetik, denn die Glasscheiben erinnern deswegen an verschiedene Wassertöne und Meereswellen.
Es ist viel aufwendiger, etwas über Leo Wollner zu erfahren. Das hat auch damit zu tun, dass das Kunstwerk im Dachgeschoß untypisch für sein Schaffen ist und letztlich dadurch veranlasst wurde, dass der ursprüngliche Plan nicht realisiert werden konnte. Denn Wollner hat sich als Textilkünstler einen Namen gemacht. Er arbeitete im Atelier Josef Hoffmann, er war – so Ernst Hiesmayr – „der anerkannte Textilianer Wiens“ und wurde an die Akademie der Künste in Stuttgart berufen. Entsprechend lautete der Auftrag an ihn, das Dachgeschoß mit Textilien zu gestalten.
Leo Wollners herabhängende „Glaswolke“ versprüht einen intensiven 70er Jahre-Vibe © Miloš Vec
Von der Decke herab sollten Stoffe hängen. Doch der Brandschutz machte einen Strich durch die Rechnung. So stellte man das Material auf Glas um, und es ist tatsächlich wertvolles Murano-Glas aus Venedig, das hier zum Einsatz gekommen ist. Jedem, dem man das erzählt, huscht ein erstauntes Lächeln über das Gesicht. Darin spiegelt sich auch die Freude über eine wertschätzende künstlerische Gestaltung des Baus durch die Werke bedeutender österreichische Künstler mit wertvollen Materialien. Übrigens waren viele Akteure miteinander erstaunlich gut bekannt oder gar über Jahrzehnte befreundet, der Bildhauer Prantl mit dem Architekt Hiesmayr, der Architekt Hiesmayr mit dem Maler Weiler, und der Baubeauftragte Günther Winkler womöglich mit allen?
Hiesmayr, der das Haus neben Winkler am besten gekannt hat, formulierte vielleicht auch die schönsten Worte für das Dachgeschoß. Ihm schien das Trägergeschoß als „ein Maschinenhaus“. Er würdigte die Wollner’sche Glasarbeit, die im Kontrast zur technischen Struktur das ästhetische Ambiente für die Nutzer schaffen sollte: Die farbige Glaswolke schwebe, schrieb der Freigeist Hiesmayr, „in einer blauverlaufenden Kosmosdecke.“ Ist es nicht nur schön, sondern auch passend sich vorzustellen, dass JuristInnen unter einem von Menschen geschaffenen Dachgeschoß-Himmel arbeiten?
Ein weiterer Schlüssel zur Gestaltung des Dachgeschosses liegt vermutlich am anderen Ende des Hauses, tief im Keller verborgen. Brigitta Zöchling-Jud, die das Projekt 40 Jahre Juridicum anregte, erwähnte eines Tages einen Raum im Keller, er sei voller Akten. Natürlich wollte ich ihn sehen, und wir gingen einige Etagen tief, sie probierte verschiedene Schlüssel an verschiedenen Türen. Am Ende öffnete einer von ihnen eine Tür zu einem Zimmer, das absurd anders beschriftet war als sein tatsächlicher Inhalt geboten hätte.
Mit der Dekanin auf dem Weg in den Juridicum-Keller © Miloš Vec
Zusammen blickten wir links auf ein hohes Regal mit den sorgfältig beschrifteten Rücken zahlloser Aktenordner, farblich sortiert und in ihren Datumsangaben chronologisch aufeinanderfolgend. Britta zog einen beliebigen Ordner heraus und begann in den Papieren zu blättern. Hier, meinte sie, müsste irgendwo auch etwas über die Dachterrasse stehen. – Dachterrasse, fragte ich, echt jetzt? Manche Studierenden würden ja meinen, das Dachgeschoß es wäre der perfekte Platz für eine Rooftop-Bar. – Ja, es habe tatsächlich den Plan für eine Dachterrasse gegeben. – Das war mir neu. Britta meint, es sei aus administrativen und finanziellen Gründen verworfen worden, vielleicht würde ich ja eine Notiz finden. Aber „Bauprotokolle“ und „Baubesprechungen“ waren die Beschriftungen fast jedes Ordners.
Wir gingen wieder hinauf und verabschiedeten uns. Ich kam alleine zurück in den Keller mit einem Schlüssel, einer Stirnlampe und viel Zeit. Aber die Wand voller Akten ist nicht zu schaffen, die Suche nach einer Gesprächsnotiz über eine nicht realisierte Dachterrasse mutete in den einschüchternden Papiermetern wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen an. Falls die Idee und ihre Nicht-Realisierung überhaupt irgendwo schriftlich festgehalten wurde. Ich zog die Tür unverrichteter Dinge zu, schloss ab und tröstete mich damit, dass irgendjemand anders sich dieser Aufgabe stellen und eines Tages aus diesen Akten alles Mögliche über das Juridicum herausfinden würde.
Was sie schon immer über das Juridicum wissen wollten, aber noch niemals zu fragen wagten, könnte hier in den Bauakten stehen © Miloš Vec
Zusammen waren die Dekanin und ich bei dieser Gelegenheit durch die Katakomben des Hauses gegangen, überall Winkel, Räume, Gegenstände, von denen man nichts ahnt. Zum ersten Mal sah ich hinter einer sehr schweren Tür den Luftschutzbunker „zugelassen für 2300 Personen“. Ich führte innerlich eine Bucketlist, was man über das Haus noch erzählen sollte. Das Juridicum hatte, von oben bis unten, doch noch mehr Geschichten und Geheimnisse, als ich geahnt hatte. Vielleicht ist der Pool doch noch irgendwo versteckt?
Miloš Vec
Über den Maler Max Weiler ist nicht nur viel, sondern auch viel Interessantes und Lesenswertes publiziert worden, etwa:
Gottfried Boehm, Der Maler Max Weiler. Das Geistige in der Natur, 2. Auflage, Springer-Verlag, Wien/New York 2010.
Wieland Schmied, Max Weiler. Ein anderes Bild der Natur. Der Weg zum Spätwerk Residenz Verlag, Salzburg 1998.
Matthias Boeckl, Max Weiler. 1910–2001. Vier Wände/Four Walls. deutsch/englisch; MUMOK Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Springer-Verlag, Wien/New York 2008.
Max Weiler, Yvonne J. Weiler (Hg.), Aus der Natur gemacht, Bilder von 1927–1997. Tyrolia Verlag, Innsbruck/Wien 1997.
Max Weiler. Die Natur der Malerei. Deutsch/Englisch, Essl Museum (Ausstellungskatalog 19.03.-29.08.2010), Hirmer Verlag, München 2010.
Im Jahrhunderts der Moderne. Max Weiler. Malerei seit 1927. Retrospektive Künstlerhaus Wien, 16. Oktober 1999 bis 6. Februar 2000.
Leo Wollner hat demgegenüber viel weniger kunstgeschichtliche Aufmerksamkeit erfahren, eine Erwähnung findet sich bei:
Jutta Beder: Zwischen Blümchen und Picasso. Textildesign der fünfziger Jahre in Westdeutschland (Beiträge zur Designgeschichte, 1). Münster: Lit Verlag 2002, S. 213 f.