Ist das Juridicum ein demokratischer Bau?

Fragen an die Architektin und Architekturkritikerin Dipl. Ing. Dr. techn. Judith Eiblmayr

Interviewbesuch bei Dipl.Ing. Dr. techn. Judith Eiblmayr © Miloš Vec

Miloš Vec: Frau Eiblmayr, Sie sind Architektin und Architekturkritikerin. Auch bei Ihnen im Büro in der Herrengasse blickt man aus einem modernen Gebäude auf alte Fassaden – ganz analog zum Juridicum, über das Sie vor einigen Jahren einen klugen Essay* verfasst haben?

Judith Eiblmayr: Das Hochhaus in der Herrengasse ist in seiner Modernität nicht unbedingt mit dem Juridicum vergleichbar, weil es 1931 erbaut eine Demonstration des politischen Machtgefüges war. Das habe ich beim Juridicum so nicht wahrgenommen. Das Juridicum war um mehr Integration bemüht, zwar auffällig, wollte es sich dennoch in die vorhandene Bausubstanz einfügen. Das Hochhaus in der Herrengasse hingegen wollte sich um jeden Preis über die gegebene Bausubstanz erheben.

Vec: Damit haben Sie jetzt gleich die jeweiligen zeitgenössischen politischen Kontexte angesprochen. Tatsächlich hat mich im Kontext von 40 Jahre Juridicum die Frage zu Ihnen geführt, wie demokratisch der Bau ist?

Öffnung auf Straßenniveau: Transparente Glasfront zur Fußgängerzone vor dem Gymnasium Schottenbastei © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl

Eiblmayr: Die demokratische Dimension des Gebäudes können am ehesten die NutzerInnen der letzten 40 Jahre beurteilen: Wie finden sie Einlass? Wie steht es um öffentliche, halböffentliche und vielleicht auch geschlossene Räume? Fühlen die NutzerInnen sich frei, fühlen Sie sich frei im Denken – oder fühlen sie sich eingekastelt?

Vordergründig wirkt das Juridicum demokratisch, weil sich‘s in die Stadt hinein öffnet. Es lässt die umgebende Architektur bestehen, indem es sie widerspiegelt und nicht mit seiner massiven Form in Bedrängnis bringt.

Vec: Der Architekt Ernst Hiesmayr hatte seine Absicht kundgetan, „eine auf Straßenniveau offene Transparenz bietende Universität zu schaffen“. Ebenso das Motiv beim zentralen Akteur seitens der Juristen – und ich zitiere Sie: „Professor Günther Winkler hatte es sich als Baubeauftragter der Fakultät zum Ziel gemacht, die Mauern der Universität im übertragenen Sinne niederzureißen; nicht nur hausintern, um allen BenutzerInnen einen offenen Diskurs zu ermöglichen, sondern auch nach außen hin um – der Öffentlichkeit Einblick in das ‚Juristenhaus‘ gewährend – die Gleichheit der Individuen vor dem Gesetz zu versinnbildlichen.“
Würden Sie das selbst auch so sehen?

Eiblmayr: Die Öffnung zur Straße und vor allem die Durchläufigkeit von der Straße ist absolut gegeben. Auch wenn ich dort nicht studiert habe, kenne ich das Juridicum noch aus den 1980er Jahren. Diese Offenheit, dass man da einfach hineinsehen und auch durchgehen kann – das ist für mich ein demokratisches Prinzip.

Die Bibliothek als demokratischer Begegnungsraum © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl

Vec: Hiesmayr, der Architekt, schrieb über seinen kongenialen rechtswissenschaftlichen Partner: „Er (Winkler) postulierte die demokratische Begegnung von Lehrer und Schüler beim Buch. Die Studenten sollen durch freien Zugang zum Buch an die Universität gebunden werden. Die Bücher, bisher in den Instituten eingeschlossen, sollten in den Freihandbibliotheken zusammengelegt werden, aber den Instituten zugeordnet bleiben.“ – So wollte das Juridicum auch eine Lernumgebung schaffen, die die Menschen und das Wissen auf Augenhöhe zusammenführt. Ist das nach wie vor ein Thema?

Eiblmayr: Auf jeden Fall. Ich sehe die unbegrenzte und unmittelbare Zugänglichkeit von Bibliotheken als Herausforderung, und da ist es ein ganz wesentliches Zeichen von Demokratisierung, wenn der Wissensdurst von den Studierenden ungehindert gestillt werden kann, ohne dass sie das Gefühl haben, da gibt es irgendwelche Geheimfächer, wo Bücher verschwinden, die nicht gelesen werden sollen. Also, nicht, dass das zu der Zeit politisch wirklich ein Programm gewesen wäre, aber faktisch war es so!

Und das sag ich jetzt als Absolventin der TU; Professor Hiesmayr hat wohl auch gewusst, wo ein Negativbeispiel zu suchen ist, nämlich an der Technischen Universität in Wien. Dort gibt es zwar ausgelagert die Bibliothek, die ist aber erst später gebaut worden. In dieser kann man alle Bücher finden, aber trotzdem besitzen die einzelnen Institute nach wie vor ihre eigenen Bibliotheken und diese sind jedoch nur während der jeweiligen Öffnungszeiten zugänglich. Beim Juridicum war es seinerzeit wahrscheinlich leichter, weil es tatsächlich nur diese eine Fakultät umfasst hat. Wobei ich jetzt nicht beurteilen kann, ob in der Zwischenzeit schon mehr ausgelagert werden musste…?

Das Recht spiegelt die Gesellschaft © José-Domingo Rodríguez Martín

Vec: Ja, es gibt außerhalb des Juridicums weitere rechtswissenschaftliche Institute in der Schenkenstraße, unser Dekanat liegt in der Renngasse, und zuletzt hatten wir wegen der Renovierung des Juridicums ein Ausweichquartier in der Schottengasse bezogen. Da war die Zugänglichkeit für Studierende deutlich schlechter.

Eiblmayr: Dennoch, es wurde versucht die Identifikation mit dem Gebäude herzustellen, durch den offenen Zugang für die Öffentlichkeit auf Straßenniveau und gleichzeitig die Spiegelung der Gesellschaft in den oberen Geschoßen. Das finde ich auch eine spannende Metapher für die Rechtslehre. Darüber habe ich damals nicht geschrieben, aber das ist mir in der Zwischenzeit aufgegangen.

Vec: Erklären Sie uns bitte diese Idee der „Spiegelung der Gesellschaft“.

Eiblmayr: Die Rechtslehre denkt über die Aufgabe des Rechts nach, das gesellschaftliche Funktionieren zu einer gewissen Zeit zu gewährleisten. Weil im Recht festgeschrieben ist, was geht und was nicht geht. Wir haben Gesetze, wir haben daher die Pflicht mittels der Gesetze eine Gesellschaft in Grenzen zu halten. Diese Grenzen verschieben sich im Laufe der Zeit, weil sich die Gesellschaft ändert, in der Folge müssen Gesetze adaptiert werden. Insofern ist die Juristerei eine Spiegelung der Gesellschaft. Diese Spiegelung am Institutsgebäude zu zeigen, scheint mir als Architektin die bessere Architektursprache – verglichen etwa mit einem steinernen Klotz, der völlig dicht macht und nur nach Innen kommuniziert, was da eigentlich vorgeht.

Lieblingsort mit Aufenthaltsqualität: Stiegenhaus-Ecke © Ana Maria Fuentes

Vec: Aber gleichzeitig vermag man von außen nicht hinter die Verspiegelung zu blicken. Könnte man die Aussage der Fassade insofern nicht auch kritisch lesen, dass nämlich die Juristerei eine intransparente Dimension besitzt?

Eiblmayr: Nein, da wo die Leute vorbeigehen, da ist es ja transparent. Und jeder könnte hineingehen, wenn er will, schauen, was gerade für Vorlesungen sind und womöglich sagen: Ich hab‘ jetzt Lust, in eine Vorlesung zu gehen oder eben in die Bibliothek. Wobei ich jetzt nicht weiß, ob das tatsächlich möglich ist. – Aber die Beobachtung kann ja auch umgekehrt gelten, von innen nach außen: Nur diese gläserne, dünne Hülle trennt die Jurist*innen von der Gesellschaft.

Vec: Anders gesagt: Das Foyer und die Verkehrsflächen bieten eine Transparenz an, aber die verspiegelten Geschoße, wo die Forschung sitzt, dann eher nicht?

Eiblmayr: Ja, aber an den Ecken können sich die Studierenden direkt vor den Institutstüren treffen und diskutieren, oder? Es gibt am Juridicum immer diese Aufenthaltsqualität, die wiederum direkt mit dem Außenraum kommuniziert. Ich meine die Vorbereiche vor dem Lift und vor den Stiegen: Das ist wirklich etwas Besonderes!

Vec: Wann haben Sie angefangen, über demokratische Architektur nachzudenken?

Eiblmayr: Schon beim Studium; Ich habe in den 80er Jahren studiert, wo man über diese Dinge diskutiert hat. Und es hat mich halt immer interessiert, ich habe mich in meiner Arbeit auch praktisch mit den demokratischen Aspekten von Architektur befasst.

„In seiner vollen Pracht“: Das Juridicum, fotografiert 2008 durch eine Baulücke © Paul Landl

Vec: Was hat Sie dazu gebracht, dass Sie seinerzeit den Essay* übers Juridicum geschrieben haben?

Eiblmayr: Man ist an mich herangetreten, für die Publikation anlässlich des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien einen Beitrag über „Studienräume“ an der Universität Wien zu schreiben. Und dann habe ich gesagt, dass ich unbedingt auch über das Juridicum schreiben wollte, weil ich spannend fand, dass es wenig Architekturkritik zu dem Gebäude gegeben hat.

Vec: Wann und wie haben Sie das Juridicum zum ersten Mal als Bau wahrgenommen?

Der große Hörsaal U 10 © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl

Eiblmayr: Das weiß ich nicht mehr, weil ich bereits die Baustelle ziemlich direkt verfolgt habe, und die hat sich ja endlos gezogen! Mein Vater hatte nämlich sein Büro am Mölker Steig und als Studentin hatte ich dort meinen Zeichenplatz. Gleichzeitig war Architekt Hiesmayr auch mein Professor, Hochbau 2, deswegen gab es eine Konnotation zu diesem Gebäude. Wirklich wahrgenommen in seiner Gesamtheit hatte ich es aber erst, als das Nachbargebäude Richtung Börse abgerissen wurde, das war circa 2008. Ich weiß noch genau, wie ich an der Börse vorbeigegangen bin und das Juridicum erstmalig mit der ausreichenden Distanz gesehen habe, in seiner vollen Pracht. Das hat mich wirklich fasziniert und ich dachte: JETZT verstehe ich es erst richtig! Darum wollte ich später auch darüber schreiben.

Vec
: Demokratische Architektur bedeutet ja vielleicht für verschiedene Generationen Verschiedenes. Hat sich Ihr Verständnis von demokratischer Architektur über die Jahrzehnte verändert?

Eiblmayr: Was sich wesentlich geändert hat, sind jedenfalls die Anforderungen an ein Universitätsgebäude, und da war in gewisser Weise das Juridicum seiner Zeit voraus. Als Gegenbeispiel wieder die TU – ganz ein unangenehmes Gebäude! Wirklich, heute noch ist es mir unangenehm, wenn ich dort bin, anderen geht’s ähnlich, weil es diese langen, teilweise engen Gänge hat, unübersichtlich, verschachtelt – genau das, was Günther Winkler nicht wollte! Die Gegebenheiten an den Unis haben sich ja stark verändert: Wir brauchen nicht mehr die riesigen Hörsäle, wo unten der „Gott-Vortragende“, der*die Vorlesende, quasi „derjenige, der lesen kann“ steht. Dieses Grundlagenwissen, das früher an ein Audimax gebunden war, kann mit neuen Medien auch anders vermittelt werden.

Öffnung vom Hörsaal-UG in die Stadt hinein: Hohe Glasfront zur Helferstorferstraße © Miloš Vec

Das heißt, es hat eine Demokratisierung des Lernprozesses stattgefunden, wo die Architektur nachgezogen hat. Bei den neuen Uni-Gebäuden – zum Beispiel am WU-Campus – gibt es wesentlich mehr halböffentliche Aufenthaltsräume. Nicht nur, dass man sich im erweiterten Foyer niederlassen kann, sondern es bedeutet, dass es kleine Seminarräume gibt, wo Studierende zusammenfinden und gemeinsam lernen können. Diesem Gemeinschaftsgedanken – und da sind wir jetzt wieder bei der Demokratisierung – wird viel Raum gegeben: Die jungen Menschen können dort sitzen und sich selbst etwas aneignen und nicht nur durch Vorlesungen im Hörsaal.

Vec
: Sie haben die Hörsäle angesprochen. Wenn ich die kritischeren Stimmen über das Juridicum höre, dann wiederholt sich die Aussage seitens der Studierenden, es sei doch irgendwie seltsam, dass man fürs Lernen unterirdisch geht, um Vorlesungen zu verfolgen.

Eiblmayr: Das finde ich ehrlich gesagt nicht. Gute Hörsäle sind meistens sowieso finster, oder wurden dann verdunkelt, weil die Projektion bei einer Vorlesung dazu gehört hat, zumindest in den letzten 50 Jahren. Dass jetzt nur einer vorne redet und alle anderen brauchen viel Licht, damit sie das Gehörte aufschreiben, da muss ich ehrlich sagen, das finde ich nicht relevant, weil es nicht unbedingt Tageslicht braucht.
Viel wichtiger finde ich, dass man zumindest an der Helferstorferstraße aus dem Hörsaal direkt ins Freie rausgehen kann. Dort haben die Studierenden das Tageslicht und auch gleich frische Luft, sind mitten im Geschehen und können sich aber auch gleich zusammenfinden und Dinge nachbesprechen.

Demokratische Transparenz durch die Möglichkeit zum Einblick: Bullauge im Zwischengang zur Bibliothek © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl

Das hat mir am Juridicum auch gut gefallen und nicht so wie auf anderen Universitäten, wo man rausgeht, und da ist dann nur ein Gang und man muss gleich mal irgendwohin verschwinden, damit man überhaupt in einer Gruppe zusammenstehen kann. Und am wichtigsten ist natürlich, dass die Aufenthaltsräume und der Lesesaal genug Tageslicht haben.

Vec
: Und wie sehen Sie das Problem der Zugänglichkeit der Institute, Stichwort: geschlossene Türen?

Eiblmayr: Tatsache ist aber auch, dass sich die Uni insgesamt verändert hat. Auch die Anforderungen an die Lehrpersonen sind verstärkt worden, sodass diese auch mal froh sind, wenn niemand kommt, damit man einfach forschen und seine Arbeit in Ruhe erledigen kann, dafür habe ich auch Verständnis. Außerdem: Wenn ein Institut das nicht möchte, könnte es einfach die Tür offenhalten. Ich glaube, das macht schon Sinn, dass man sich in gewisser Weise abgrenzt. Allerdings die Bücher sollten zugänglich sein! Ich hab‘ 2015 in den USA gelehrt, auf einem Campus, University of Minnesota. Jetzt war ich wieder in Minneapolis und was ich festgestellt habe, ist: Alle Außentüren der Institutsgebäude sind verschlossen.

Das macht gefühlsmäßig einen gewaltigen Unterschied. Man kann jetzt am Campus – „Campus“ ist ja das Feld und eigentlich sollte darin alles gut vernetzt sein – in kein Institutsgebäude mehr hinein, wenn man nicht eine ID-Karte hat. Das fand ich ziemlich unangenehm und vor allem unamerikanisch. Nur die Bibliotheken sind übrigens offen – open to the public and for free –, wo je nach Fakultät alle Bücher, die die Institute bestellen, aufliegen.

Urbane Räume: Begrünte Fußgängerzone an der Schottenbastei zwischen Juridicum und Gymnasium © Ana Maria Fuentes

Vec: Was ist da in den letzten Jahren passiert?

Eiblmayr: Die Stadt hat sich seit Corona verändert, sagen meine Freunde und Bekannten. Und Minneapolis ist jene Stadt, wo George Floyd erschossen wurde, da herrscht auch Angst auf allen Seiten. Aber generell: Amerika geht schon ein bisschen in die Defensive, ziehen sich ins Private zurück und sperren auch noch die Unigebäude zu – kein guter Zug. Davon sind wir in Wien noch weit entfernt, gerade am Juridicum ist im Erdgeschoß alles offen.

Vec: Das Juridicum galt lange Zeit als eine sehr vorzeigbare prototypische Hochschularchitektur, ist das immer noch so? Wissen Sie zufällig, wie es mittlerweile von Architekturkritikern und Leuten, die Architektur unterrichten, wahrgenommen wird?

Eiblmayr: Was darüber gelehrt wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber was man schon sagen kann: Für Wien und für Österreich ist das Gebäude deshalb so besonders, weil es in dieser Unverfälschtheit immer noch dasteht. Wo so viel andere gute Gebäude durch thermische „Aufrüstung“, neue Fenster und sonst was, in seiner Komplettheit zerstört wurden. Am Juridicum ist das – bislang …? – nicht passiert.

Vec: Als ich eben das Haus verlassen habe, um zu Ihnen zu gehen, kam eine junge Frau mit ihrer kleinen Tochter ins Haus. Sie hat die Tür zum WC im Erdgeschoss aufgemacht, hat hineingeschaut, die Tochter hineingeschubst, die Tür nochmal von außen angeschaut und dann gesagt „Hier hat sich aber auch gar nichts verändert!“ – Eine gute Nachricht für Sie?

Der „sienafarbene Pirelliboden“ mit Licht und Schatten © Miloš Vec

Eiblmayr: Eine sehr gute Nachricht! Weil es wieder davon zeugt: Es gibt keine Barriere! Die Frau, die hier offensichtlich studiert, oder gearbeitet hat, weiß, dass sie ins Juridicum einfach reingehen kann, auch dann, wenn lediglich das Kind aufs Klo muss. Das ist doch demokratisch, nicht?

Vec: Und das Nicht-Verändern des Baus? Wie finden Sie, dass es noch immer noch als ein Monument seiner Zeit dasteht?

Eiblmayr: Ich finde es nach wie vor super, es wird meiner Meinung nach sogar immer besser.

Vec
: Weil es gut altert?

Eiblmayr: Ob es auch in der Substanz gut altert, das kann ich aus der Ferne nicht beurteilen, ob beispielsweise in den letzten Jahren irgendwo Rostschäden entstanden sind. Wissenstand damals – also 2015 – war, dass es keine Korrosionsschäden oder Bauschäden gab. Und, sagen wir so: Die Architektur hat seinerzeit schon einen Grad an Modernität gehabt, der das Gebäude nicht alt aussehen lässt, im doppelten Sinne. Das ist für Österreich wirklich sehr ungewöhnlich.

Außenansicht aufs Dachgeschoss: Die Stahlfachwerke © Bundesdenkmalamt, Aufnahme: Bettina Neubauer-Pregl

Vec: Haben Sie einen Lieblingsort am Juridicum?

Eiblmayr: Ja, diese gerundeten Ecken vor den Liften, ohne Möblierung, wo man einfach stehen und sichtbarrierefrei in den Stadtraum schauen kann, das ist so schön! Ein simpler Raum, mit der Verglasung bis zum sienafarbenen Pirelliboden und Blick in die Baumkronen am Vorplatz oder in die Gassen. Man spürt irgendwie die abgehängte Konstruktion, fühlt sich wie in einer Gondel.

Vec: Sie haben das „Podeste“ genannt, in Ihrem Essay.

Eiblmayr: Es sind zugegeben große Podeste, weil ja da auch die Stiegen liegen. Weil man sich nicht hinsetzen kann, ist es nicht unbedingt ein Ort, wo man sich stundenlang aufhält, aber man steht, schaut raus und fühlt sich irgendwie gut aufgehoben in der Stadt. Was mich außerdem beeindruckt hat, als ich das erste Mal drinnen war, ist der Dachgeschoßraum mit seinen riesigen, blau lackierten Trägern, den fand ich sensationell! Dort kommt die konstruktive Qualität voll zum Tragen. Man versteht auf einmal diese Schiffsästhetik, und wie über das Meer schau ich raus über die Dächer der Innenstadt – PHANTASTISCH!

Wie ein Schiff: Das Juridicum, gesehen vom 5. Obergeschoß des Verfassungsgerichtshofs © Josef Pauser

Um vielleicht zum Anfang unseres Gesprächs zurückzukommen –, wenn man hier beim Hochhaus Herrengasse rauffahrt und von der einen Terrasse Richtung Westen ‘rüberschaut, dann liegt das Dachgeschoß des Juridicums nämlich da wie ein Schiff. Die Stahlfachwerke sieht man von der Seite, ein toller Anblick und einzigartig in der Dachlandschaft!

Apropos hier ist noch eine Anekdote analog zum Hochhaus in der Herrengasse zu erzählen: Wie schon Ende der 1920er Jahre hat auch in den 1970er-Jahren die österreichische Stahlindustrie einen Auftrag gebraucht. Beim Turm des Hochhauses Herrengasse ist deshalb die Stahlkonstruktion konventionell und überdimensioniert worden, obwohl der Statiker ein neues, materialsparendes Patent für Stahlsäulen entwickelt hatte. Genauso konnte Kurt Koss beim Juridicum auf Staatskosten eine aufwändige Hängekonstruktion entwickeln. Aber vielleicht hält es ja deshalb so gut?!

Vec: Haben wir in unserem Gespräch noch irgendwas ausgelassen, was Ihnen wichtig wäre?

Eiblmayr: Vielleicht, dass Professor Hiesmayr die Chance gekriegt hatte, dieses megagroße Bauwerk, das das Juridicum zweifellos ist, realisieren zu können. Er hat diesen Auftrag erhalten, weil er die Professur an der TU gekriegt hat. Früher war das so, dass die Professoren nicht nur berufen wurden, sondern dazu noch einen Bauauftrag bekommen haben, das hatte er mir noch selbst erzählt.

Dipl.Ing. Dr. techn. Judith Eiblmayr

Und er selbst war auch erstaunt, nach dem Motto: “Na bumm, jetzt geht’s gleich los!“, weil seine anderen Bauten sind ja eher klein dimensioniert gewesen. Aber mit der selben Feinfühligkeit hat er in die große Dimension gewechselt, das Juridicum mit Professor Winkler gemeinsam geplant – zugegeben mit viel Zeit – und das Bauwerk in einer Perfektion hingestellt, die wirklich ihresgleichen sucht!

Vec: Vielen Dank für das Gespräch, Frau Eiblmayr!

Das Gespräch mit der Architektin und Architekturkritikerin Dipl.Ing. Dr. techn. Judith Eiblmayr fand am 31. Oktober 2024 in ihrem Büro im Hochhaus Herrengasse statt, wurde anschließend transkribiert und redaktionell überarbeitet.

* Judith Eiblmayr, „Das Juridicum. Haus der rechtswissenschaftlichen Fakultät“, in: Julia Rüdiger und Dieter Schweizer (Hg.), Stätten des Wissens. Die Universität Wien entlang ihrer Bauten 1365-2015, Böhlau Verlag: Wien, Köln und Weimar 2015, 311-320.