Die Stiegenhäuser
Die Stiegenhäuser sind Highlights am Juridicum – im wahrsten Sinne des Wortes. Tagsüber sind sie regelmäßig die hellsten Orte des Hauses und deswegen vielleicht sogar seine schönsten Plätze überhaupt.
In den ersten Stockwerken reichen die Fenster bis zum Boden. Die Verglasung ist rechteckig, in regelmäßig wechselnder Anordnung. Sie zieht sich in einem harmonischen Bogen um die Ecken. Darüber, im 3.-6. Obergeschoss, beginnt eine neue Architektur.
Der Architekt Ernst Hiesmayr schrieb rund ein Jahrzehnt nach dem Bezug des Juridicums: „Man (tritt) an die Fenster, mit der Nachbarfassade recht nah vor Augen, und dem Gefühl, in einer Luftschiffkanzel über den Platz zu schweben.“
An den Panorama-Fenstern der verglasten Treppenabsätze (EG bis 2. Stock) stehen oft Studierende. Manche telefonieren, nehmen einen Snack zu sich oder sprechen in ihr waagrecht gehaltenes Handy mit gedämpfter Stimme ein Sprachmemo.
Andere schauen bloß versonnen hinaus. Alles ist hell, voll verglast und von dem Licht durchflutet, das von außen hineinfällt. Vielleicht gibt es im Juridicum keinen besseren Ort zum Tagträumen.
Abends wiederholt sich diese Konstellation als Fotonegativ: Jetzt sind die Stiegenhäuser innen hell beleuchtet und strahlen in den urbanen Raum. Von außen sieht man die Menschen, die dort stehen, umso deutlicher. Ihre scharf geschnittenen, gesichtslosen Silhouetten erinnern an Figuren eines Bühnenstücks oder einer Kunstinstallation.
Alle Bewegungen, mögen sie auch noch so gering bleiben und räumlich durch ganze Stockwerke getrennt sein, scheinen einer aufeinander abgestimmten Choreografie zu folgen. Wer dort steht, ahnt nicht, wie sehr er von außen beobachtet werden kann und wird.
Als die JuristInnen noch im Hauptgebäude der Universität am Ring residierten, gab es dort die sogenannte „Juristenstiege“.* Die Bezeichnung rührte daher, dass die Räumlichkeiten der Rechtswissenschaftlichen Fakultät ganz in der Nähe in diesem südseitigen Teil des Hauses waren.
An dieser „Juristenseite“ des Hauses lag die ebenfalls südseitige Haupttreppe (Stiege eins) des Hauptgebäudes, nahe bei Instituten und Hörsälen sowie dem Rechts- und Staatswissenschaftlichen Dekanat. Während des Zweiten Weltkriegs, im Februar 1945, wurde diese Haupttreppe durch einen Bombentreffer völlig zerstört.
Heute ist sie für JuristInnen immer noch ein wichtiger Teil ihrer akademischen Laufbahn: Die AbsolventInnen betreten sie auf dem Weg zu ihrer Sponsion im Großen Festsaal, wenn sie zusammen mit ihren KollegInnen das Gelöbnis ablegen und anschließend feierlich die Urkunde, die den Abschluss des Studiums markiert, überreicht bekommen. Allgemein bekannt dürfte der Name „Juristenstiege“ nicht mehr sein, weder bei den Jus-Studierenden und noch bei AbsolventInnen anderer Fachrichtungen.
Diese längst wieder und in modifizierter Form aufgebaute Stiege ist einer der prachtvollsten Orte im Hauptgebäude. Sie beeindruckt durch den Luxus der Leere: Viel Raum, begrenzt durch hohe Decken und weitläufige Wände, angestrahlt durch helles, weißes Licht. Vielleicht schüchtert sie in ihrer kalten Pracht aber auch die Besucher ein; man muss nur dort stehen und spürt eine diffuse Ehrfurcht, von der man nicht weiß, ob sie durch die hier unsichtbare Gelehrsamkeit der Universität veranlasst ist oder eher durch die steinerne, überlebensgroße Statue von Kaiser Franz Joseph I.
Die Stiegenhäuser im Juridicum sind denkbar weit von dieser monumentalen, vordemokratischen Ästhetik entfernt. Eine Demonstration von Macht und Pracht hat die Architektur damals, als das Juridicum vor rund einem halben Jahrhundert erdacht wurde, vorsätzlich hinter sich gelassen. Es gibt in den Stiegenhäusern an der Schottenbastei nichts Einschüchterndes mehr.
Die Juridicum-Stiegenhäuser werden von ihren Nutzern angeeignet, gerne modifiziert, gelegentlich zweckentfremdet gebraucht. Manche Studierende machen es sich mit ihrem Notebook auf dem Boden der Stiegenhäuser bequem. Während sie auf die nächste Lehrveranstaltung warten, den Rücken abgestützt am Fenster oder an der Wand, schließen sie ihr Gerät an einer der wenigen Steckdosen an.
Andere setzen sich alleine oder zusammen auf die Treppen, und ich habe mich oft gefragt, ob der nach unten ins Offene gehende Blick in Richtung der bodenlangen Panoramafenster dafür der unbewusste Anreiz ist?
Die zwei Stiegenhäuser des Juridicums liegen rund 53 m auseinander und sind als Stahlbetonkern-Zwillingstürme angelegt. An beiden Stiegen gibt es drei Aufzüge. Nachts, wenn das Gebäude leer ist, stehen alle Aufzüge im Erdgeschoss, ihre Türen verschlossen und das Display gedimmt, auch sie scheinen wie im Halbschlaf auf den nächsten Werktag und die ArbeiterInnen der Rechtswissenschaft zu warten.
Untertags hingegen ist der Andrang manchmal groß und man muss einen Moment warten, bis die Aufzugskabine wieder zurück ins Erdgeschoss gefahren ist, womöglich kommt sie von ganz oben aus dem DG oder unten vom U3. – Wie weit sind die Wege, die man zu Fuß gehen soll?
An der Meiji Universität in Tokio – übrigens ursprünglich gegründet als Meiji Law School – gibt es ein Hochhaus. Es heißt „Liberty Tower“, ist 119 m hoch und hat 23 Stockwerke. Dort pickt an den Aufzügen ein unerwartetes Plakat hinter dauerhaft schützender Folie. Es richtet sich an die potenziellen Aufzug-Fahrer und fordert sie auf, ihre Nutzung zu überdenken.
Eine Eule – womöglich auch in Japan Inbegriff der Weisheit – neigt ihren Kopf leicht zur Seite. Sie steht zweimal auf Stufen, und der Text ermahnt uns auch auf Englisch, anstelle der Lifte das Treppenhaus zu benutzen. Wir sollen bitte Energie sparen: „Machen wir unser bestes Japan“ (zwei Ausrufezeichen). Im Liberty Tower wird die Freiheit in Erinnerung gerufen, trotz Aufzügen zu Fuß zu gehen.
Die japanische Norm beeindruckt durch ihre maßvoll-differenzierte Aufforderung, die Präzision des Vorschlags und ihre sachliche Begründung: Drei Stockwerke aufwärts gehen bzw. fünf Stockwerke abwärts gehen. Interessanterweise ist der Appell rein ökologisch grundiert, und er zielt ausschließlich aufs Kollektiv, die Nation: Ressourcen sparen, das Land verbessern.
Demgegenüber hört man hierzulande analoge, aber anders begründete Empfehlungen von Arbeitsmedizinern, die spiegelbildlich exklusiv ans Individuum gerichtet sind. Sie lauten: Wer gestresst ist, soll viel Sport machen.
Wer sich wenig bewegt, soll viel zu Fuß gehen, und wer überhaupt gar keine Zeit für Sport und Fußgänge hat, mag einfach nur Treppensteigen. Das ist anstrengend genug. Bestimmt haben die, die vom Erdgeschoss ins Juridicum-Zwischengeschoss fahren, aber auch ihre Gründe.
Im Aufzug lässt sich jedenfalls besser miteinander reden oder noch mal kurz aufs Handy schauen. Vielleicht sind die AufzugfahrerInnen bereits zu gestresst, um zu Fuß zu gehen. An das Beste aller Österreich appelliert niemand.
In den USA überraschte den damaligen Baubeauftragten des Juridicums während seiner Erkundungsreise um die Welt in 80 Tagen etwas anderes bei den dortigen Liften: Auf seiner Reise besichtigte der damalige ordentliche Professor der gesamten Rechts- und Staatswissenschaften Günther Winkler (1929-2024) viele Universitätsbauten. In seinem Bericht findet sich eine Notiz, die in eine fremd gewordene Universitätswelt führt.
Deren hochschulpolitischen Zustände sind so weit entfernt, dass man auf die entsprechende Idee gar nicht gekommen wäre: Winkler schreibt, es habe in Kalifornien Auseinandersetzungen um die Aufzüge gegeben, die darauf zurückzuführen waren, dass die Benutzung nur bestimmten Personen vorbehalten war. Studierende gehörten nicht dazu. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, dass es im Österreich des 21. Jahrhunderts Universitätsgebäude gäbe, deren Aufzüge nicht von Studierenden genutzt werden dürften.
Stiegen, die man zu Fuß gehen kann, strahlen so oder so jedenfalls eine größere Offenheit aus, und die Stiegenhäuser des Juridicums sind ausgestattet mit schönen Details, die nicht sofort auffallen: Die Handläufe aus dem organisch gerundeten Holz auf der Haupttreppe und an den Rampen.
Das Metallrohr am dreiseitig verglasten Panorama-Fenster, auf das man unwillkürlich seine Hand legen möchte, wenn man dort steht. Zu den Bibliotheken hin gibt es nahe den Stahlbeton-Lifttürmen nochmals Fensteröffnungen in den urbanen Raum hinein.
Von Stiege 1 aus öffnet sich der Blick in südlicher Richtung in die Rockhgasse, und man sieht genau auf einen der Bäume, die rund um das Haus gepflanzt worden sind. Am schönsten ist aber das Licht außen um die Mittagszeit, wenn die Sonnenstrahlen zurück von der Stiegen-Glasfront auf den Platz davor fallen. – Welche unerwarteten Geheimnisse die Stiegenhäuser bergen, von denen im Haus vermutlich niemand mehr weiß, wird der ehemalige Mitarbeiter des Architekten Ernst Hiesmayr (1920-2006), DI Reinhardt Gallister demnächst in dieser Serie erzählen.
* Kurt Mühlberger, Palast der Wissenschaft. Ein historischer Spaziergang durch das Hauptgebäude der Alma Mater Rudolphina Vindobonensis, Böhlau Verlag: Wien, Köln und Weimar 2007, 114f.